Erzählte Mode

Ringvorlesung: Erzählte Mode. Schnitte, Texte, Muster in Literatur und Medien

Ringvorlesung Sommersemester 2023, mittwochs 18-20 Uhr, Goethe-Universität Frankfurt

Ort: Goethe-Universität, Norbert-Wollheim-Platz 1, 60323 Frankfurt am Main

Raum: Campus Westend, IG Farbengebäude 411

Eine Kooperation der Goethe Universität Frankfurt (Dr. Iris Schäfer, PD Dr. Martina Wernli) mit der Technischen Universität Darmstadt (Prof. Dr. phil Alexandra Karentzos)

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Ringvorlesung Programm (wird in neuem Tab geöffnet)

Ringvorlesung Programm

19.04.2023 Erzählte Mode. Schnitte, Texte, Muster. Zur Einführung

Dr. Iris Schäfer (Goethe-Universität Frankfurt), PD Dr. Martina Wernli (Goethe-Universität Frankfurt), Prof. Dr. Alexandra Karentzos (Technische Universität Darmstadt)

Abstract

Die in der Literatur beschriebene bzw. geschriebene Kleidung fiktiver Figuren ist „von der Last gegenständlicher Referenz entbunden“ (Kraß 2006, 1) wie es Andreas Kraß in Geschriebene Kleider pointiert formuliert, verweist jedoch auf eine bedeutsame Interdependenz des Imaginären und Realen, liegt doch der „Reiz der Mode […] in ihrer Fähigkeit, beide Welten ineinander zu blenden und dem realen Leben eine mythische Qualität, und zugleich dem imaginierten Leben ein Realitätsprädikat zu verleihen.“ (Ebd. 11)

Wie nah auf theoretischer Ebene Texte und Textilien zusammengedacht werden können, zeigt sich exemplarisch an Roland Barthes, der auf die etymologische Wurzel von ‚Text‘ – textum, lateinisch für Gewebe, Geflecht, Gefüge hinweist (vgl.: Barthes 2010, 80).

Solche Interdependenzen stehen im Fokus des transdisziplinären Vorhabens, das aus literatur- und Medienwissenschaftlicher sowie aus mode- und kunstgeschichtlicher Perspektive Schlaglichter auf die Facetten der gemeinsamen Schnittmenge von fiktiv-imaginären und materiell-realen modischen Kunstwerken werfen wird. Mit diesem innovativen Zugriff erweist sich das Vorhaben als anschlussfähig an aktuelle wissenschaftliche Diskurse zur Materialität und Medialität (Material Turn), die nach der Bedeutung von Materialien im Kontext von gesellschaftlichem Handeln fragen.

Durch einen interdisziplinären, öffentlichen Workshop (im Januar 2023 an der TU Darmstadt) sowie eine Ringvorlesung (im Sommersemester 2023 an der GU Frankfurt) wird es den Teilnehmenden ermöglicht, sich mit neueren theoretischen Zugängen zu befassen und u.a. die Relation von Materialität und Medialität mit Blick auf das Verhältnis von Stofflich-Materiellem und Vermittelnd-Medialem zu erweitern.

Gefragt wird in diesem Zusammenhang etwa danach, wie Intermaterialität und Intermedialität das ästhetische Spiel der Rezipierenden lenken, wie Medialität und Vermittlung produktiv verknüpft werden und mit welchen weiteren Theorien (Performativitätstheorie, Ritualforschung, Modetheorien etc.) diese Praktiken wissenschaftlich analysiert werden können.

Quellenangaben:

Barthes, Roland: Die Lust am Text. Berlin 2010.

Bruffee, Kenneth: Collaborative Learning: Higher Education, Interdependence, and the Authority of Knowledge. Baltimore: The Johns Hopkins University Press 1993.

Kraß, Andreas: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Tübingen und Basel: A. Francke 2006.

 

Gefördert durch die Egon Gerson Stiftung

Abbildung

Aglaja Veteranyi, Brautkleid beschriftet (2001), Nachlass Aglaja Veteranyi, Schweizerisches Literaturarchiv, Schweizerische Nationalbibliothek. Foto: NB, Simon Schmid

26.04.2023 Mode und Gesellschaft im Wandel: Ein Spaziergang durch die historische Zeitschriftensammlung der Von Parish Kostümbibliothek.

Dr. Anna Ananieva (Eberhard Karls Universität Tübingen/ Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg)

Abstract

Modezeitschriften sind eine relativ neue Erscheinung: In ihrer uns heute vertrauten Form als periodisch erscheinende Druckerzeugnisse mit regelmäßiger Berichterstattung in Wort und Bild über Kleidung, Accessoires, Kosmetik und das gesellschaftliche Leben sind sie den sozialen und technischen Veränderungen des modernen Zeitalters entsprungen.

Der Vortrag geht auf die Entwicklung der ‚erzählten Mode‘ in periodisch erscheinenden Medien ein, fokussiert die sozio-kulturellen Merkmale und ästhetischen Besonderheiten und schildert die Wandlungen, welche die europäischen ‚Modezeitschriften‘ in der Zeitspanne zwischen den Epochenschwellen 1700 und 1900 vollzogen haben. Der Vortrag führt dabei durch die Bestände der zweitgrößten Zeitschriftensammlung in Deutschland, der Münchner Von Parish Kostümbibliothek.

Kurzbio

Anna Ananieva ist Habilitandin an der Eberhard Karls Universität Tübingen und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg. Sie forscht und publiziert fachübergreifend zur Europäischen Kultur- und Literaturgeschichte des 18.-19. Jahrhunderts, kuratiert Ausstellungen und arbeitet als Fachberaterin für TV-Dokumentationen.

Publikationen

Transformationen von Unterhaltung. Zum Wechselspiel von Konversation, Salonmusik und Kulturzeitung im 19. Jahrhundert, in: Christoph Strosetzki (Hg.), Der Wert der Konversation, Stuttgart: Metzler, 2022, S. 241-260. DOI: 10.1007/978-3-662-65188-9_11

Elegante Unterhaltung: Die Leipziger „Zeitung für die elegante Welt“ und ihre deutschsprachigen Nachfolger in Prag und Ofen-Pest (zus. m. Rolf Haaser), in: Katja Mellmann, Jesko Reiling (Hg.), Literarische Öffentlichkeit im mittleren 19. Jahrhundert. Vergessene Konstellationen literarischer Kommunikation zwischen 1840 und 1885. (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 142). Berlin: De Gruyter, 2016, S. 35-60. DOI: https://doi.org/10.1515/9783110478778-002

Anna Ananieva (Hg.), Zirkulation von Nachrichten und Waren: Stadtleben, Medien und Konsum im 19. Jahrhundert. Ausst.-Kat. Bonatzbau Universitätsbibliothek Tübingen (6.11.2015-6.1.2016). Tübingen: Universitätsbibliothek Tübingen, 2016, S. 11-24. [Elektronische Ressource]. DOI: http://dx.doi.org/10.15496/publikation-12233

Abbildung

Zwei modisch gekleidete Herren bei der Lektüre der Zeitschrift La Mode („Modes d'hommes“). Bildbeilage zu: La Mode. Revue du monde élégant, Paris (Imprimerie de Goetschy) 1831, 3. Jg., Bd. 7 (April-Juli), Taf. 138.

Gestochen von Jean Denis Nargeot nach einer Zeichnung von Paul Gavarni.

Bildnachweis: Münchner Stadtmuseum, Sammlung Mode / Textilien / Kostümbibliothek, Von Parish Kostümbibliothek, Inv. VPK-2019/83.

03.05.2023 ‘Through the Looking Glass & What Fashion Found There: Lewis Carroll’s Literary Heroine as Style Icon’

Prof. Kiera Vaclavik, Ph.D. (Queen Mary University of London)

Abstract

Lewis Carroll writes virtually nothing about the physical appearance and clothing of his most famous protagonist and both he and Sir John Tenniel – the illustrator whose influential images first brought Alice to life in the public imaginary – were temperamentally and ideologically opposed to fashion and its strictures. It is difficult to imagine a less promising start for a style icon, and yet this is precisely what Alice has become.

In this lecture I will examine how attendance to dress contributes to our understanding of Carroll, Tenniel and Alice, before moving on to consider the reasons why Alice has emerged not merely as a follower of fashion but as a trendsetter in her own right.

With close reference to an American Vogue photoshoot by Annie Liebowitz in particular, it dwells on issues of age and experience, nostalgia and knowingness. Ultimately it argues that if attendance to literary fashioning enhances our ‘understanding of texts, their contexts and their innovations’ (Kuhn and Carlson, 2007) attendance to literature-inspired fashion also constitutes a precious and as yet underexploited resource in the study of the reception, circulation and transmission of literary works.

Short Bio

Kiera Vaclavik is Professor of Children’s Literature and Childhood Culture at Queen Mary University of London where she directs the Centre for Childhood Cultures.

Her work brings children’s literature studies into dialogue with a range of other fields including classics, postcolonial studies, fashion and music. It is guided by comparative approaches, engaging with Francophone and Anglophone material, and tracing the movement of works not only across linguistic and national borders but also between media and forms.

Publications

Fashioning Alice: The Career of Lewis Carroll’s Icon, 1860-1901 (London: Bloomsbury, 2019).

‘World Book Day & Its Discontents: The Cultural Politics of Book-Based Fancy Dress’, The Journal of Popular Culture 52:3, June 2019, 582-605.

10.05.2023 „Dress your age“? Erzählungen über (nicht-)altersgemäße Kleidung

PD Dr. Thomas Küpper (Universität Duisburg-Essen)

Abstract

Erzählung, Mode und Alter(n) haben gemeinsam, dass durch sie jeweils Zeit konstituiert wird – sei es etwa markierte oder verkörperte, sei es entfaltete, geschichtete oder verdichtete, neue oder überkommene. Besonders deutlich werden solche Zusammenhänge, wenn von (nicht-)altersgemäßer Kleidung die Rede ist.

Häufig gilt es als Norm, dass man sich mit zunehmenden Jahren dezenter, weniger provozierend als in der Jugend zu kleiden habe; diese Setzung ist mit dem verbreiteten Narrativ vereinbar, im Vorgang des Alterns schwinde man allmählich dahin und werde unsichtbar.

Solche Narrative werden  dann wiederum in literarischen Texten aufgegriffen und konterkariert – dies soll in dem Beitrag am Beispiel von Ingrid Nolls Kriminalromanen gezeigt werden.

Kurzbio

PD Dr. Thomas Küpper ist Literatur- und Medienwissenschaftler am Germanistischen Institut der Universität Duisburg-Essen. 2022 erschien seine Monografie „Bewusst im Paradies: Kitsch und Reflexivität“.

16.05.2023 Das bunte Kleid. Androgynie in Thomas Manns Romanwerk ‚Joseph und seine Brüder‘

Prof. Dr. Andreas Kraß (Humboldt-Universität zu Berlin)

Abstract

In 'Der junge Joseph' (1934), dem zweiten Band seines Romanwerks 'Joseph und seine Brüder', schildert Thomas Mann, wie der Protagonist von seinem Vater Jaakob ein buntes Kleid als Geschenk erhält. Es ist ein kostbares Gewand, das Josephs verstorbener Mutter Rahel gehörte, der „Schleier der Vielfalt“.

Joseph verwandelt das ehrenvolle Erbstück in ein modisches Statement: „Er trug das Gewand recht lässig, etwas gerafft, durch den Gürtel seines Hemdrocks gezogen“. Seine Brüder beschimpfen ihn dafür als „Geck“ und „Zierbengel“. Thomas Mann scheint sich auf die Vorstellung des „dritten Geschlechts“ (Magnus Hirschfeld) zu beziehen, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts weit verbreitet war. Der Vortrag geht diesen Spuren nach.

Kurzbio

Andreas Kraß ist seit 2012 Professor für deutsche Literatur des Mittelalters an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zudem leitet er die Forschungsstelle „Archiv für Sexualwissenschaft“, das am Institut für deutsche Literatur angesiedelt ist.

24.05.2023 Ein Hochzeitskleid, Heine und das Exil. Schrift auf unmodischen Textilien

PD. Dr. Martina Wernli (Goethe-Universität Frankfurt)

Abstract

Die Beschriftung von Textilien ist im Zusammenhang mit Labels oder ‚Botschaften‘ weit verbreitet, sie stiftet Zugehörigkeit oder sorgt für Abgrenzung.

Bei Unikaten ist der Zusammenhang von Schrift und Textil schon schwerer zu fassen, zumal wenn es sich um Kleidungsstücke oder Accessoires handelt, die keinerlei Verbindung zur aktuellen Saison, zur Präsentation auf einem Laufsteg oder zu berühmten Designer:innen aufweisen. Und doch steht auch Unmodisches in einem Zusammenhang mit Mode.

Um solche Kombinationen von Text und Textilien soll es im Vortrag gehen, im Zentrum steht ein Hochzeitskleid, das Aglaja Veteranyi beschriftet hat, eine Weste, die Texte von Heine zeigen und eine Tasche, in die Erinnerungen an die Internierung sogenannter „feindlicher Ausländer:innen“ in Großbritannien im Zweiten Weltkrieg gestickt sind.

Kurzbio

PD Dr. Martina Wernli ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. in der neueren deutschen Literaturwissenschaft.

Forschungsschwerpunkte: Materielle Kultur und Literaturwissenschaft, Kanonfragen, Gegenwartsliteratur, Romantikerinnen.

Publikationen

Rigid Curls and Furry Spoons. Hair as a Contact Zone in Meret Oppenheims Work. In: Elena Casanova, Lilli Hölzlhammer, Helen Moll (Hg.): Gegenständliche Poetiken des Haares. Berlin: Walter DeGruyter 2023, S. 79–92

Eine Kurzhaarfrisur und die „Frauenrechtelei“. Gender bei Robert Walser, insbesondere im Prosastück Der Bubikopf. In: Robert Walsers Ambivalenzen. Hg. v. Kurt Lüscher, Reto Sorg, Peter Stocker. Paderborn: Wilhelm Fink 2018, S. 143–157

Haarige Geschichten. Die Figur des Frisörs bei Herta Müller. In: Jens Christian Deeg, Martina Wernli (Hg.): Herta Müller und das Glitzern im Satz. Eine Annäherung an Gegenwartsliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, S. 193–215

31.05.2023 Sich in Worte kleiden. Über das Verhältnis von Texten und Textilien

Prof. Dr. Kerstin Kraft (Universität Paderborn)

Abstract

Die Verbindungen von Texten und Textilien sind vielfältig – allein in diesem einleitenden Satz finden wir neben den Begriffen ‚Text‘ und ‚Textilien‘, die beide auf das lateinische ‚texere‘ zurückgehen, die ‚Ver-bindungen‘, also das, was Buchstaben ebenso wie Fäden formal zusammenfügt und das ‚Viel-fältige‘ als Beschreibung des Bedeutungs- und Faltenreichtums.

Lässt man sich darauf ein, finden sich zahlreiche weitere etymologische und semantische Zusammenhänge, die jedoch nicht immer zur Theoriebildung geeignet sind und interpretatorisch keiner Vertiefung bedürfen – und auf die auch schon häufig hingewiesen wurde.

Im Vortrag geht es um das konkrete Verhältnis von Mode, Kleidung, Textilien und Texten, das anhand von Objekt-, Bild- und Textbeispielen untersucht wird. Dies geschieht aus dezidiert textilwissenschaftlicher Sicht und entsprechend werden zunächst Kleidungsstücke und Textilien versammelt, die Buchstaben, Wörter oder Texte aufweisen: Statement-T- Shirts, Wochentagssocken, Poesiekleider, Propagandatextilien, Zeitungskleider u.v.a.m. werden hinsichtlich ihrer Materialität und Technologie betrachtet.

So finden sich Texte und Zeichen, die auf unterschiedlichste Trägermaterialien an sichtbaren oder nicht sichtbaren Stellen beispielsweise gedruckt, gemalt oder gestickt wurden. Durch die von mir vorgestellte Ordnung des Materials wird auf die jeweiligen Bedeutungen und Funktionen verwiesen. Neben dieser sehr konkreten, materiellen Form, sich buchstäblich in Worte zu kleiden, gibt es Textilien, Kleidung und Mode, die in der Literatur beschrieben werden.

Diese fiktiven Phänomene werden im zweiten Teil des Vortrags untersucht. Auch hier wird zunächst der Versuch einer Auslegeordnung unternommen und dabei die Rolle von Mode, Kleidung, Textil in der Literatur, der Quellenwert dieser Literatur für die Kulturwissenschaft der Mode und des Textilen sowie Materialitäten in den Blick genommen. Reflektiert werden die Notwendigkeit einer transdisziplinären Methode zur Untersuchung dieses sehr heterogenen Materials und die Einführung einer eigenen Kategorie.

Kurzbio

Kerstin Kraft ist Kulturwissenschaftlerin und seit 2013 Professorin für Kulturwissenschaft der Mode und des Textilen an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Materielle Kultur, Historische und empirische Kleidungsforschung, Textile Grundphänomene, Theorien und Methoden der Mode- und Textilwissenschaft.

Publikationen

Zyklographie der Mode und des Textilen, in: Ralf Adelmann, Christian Köhler, Kerstin

Kraft, Christoph Neubert, Mirna Zeman (Hg.): Kulturelle Zyklographie der Dinge,

Paderborn 2019.

Textile Erinnerung, in: Karl Braun, Claus-Marco Dieterich, Angela Treiber (Hg.):

Materialisierungen von Kultur, Würzburg 2015, S. 173-183.

Abbildung

Geschirrhandtuch „Mutti geht zum Friseur“.

07.06.2023 „Mode und textile Ornamentik in der deutsch-jüdischen Literature seit dem 20. Jahrhundert“

Miriam Wray, Ph.D. (University of Leeds)

Abstract

„Überall wurde gewebt und genäht, die Stadt war voll mit kleinen und größeren Fabriken, denn Kalisz versorgte ganz Russland mit Spitzen, überall webten Frauen Spitzen, koronka auf Polnisch, krushewo auf Russisch, ich suchte nach meinen Krzewins, und auch sie waren aus einem Gewebe entstanden, aus diesem sprachlichen Ornament. Warum hat mein Urgroßvater Ozjel seinen Sohn Zygmunt in Polen gelassen, als er mit seiner Familie nach Kiew umsiedelte? Ich ging durch Sumpf und Spitzenschleier.“ (Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther 129)

Dieses Seminar der Ringvorlesung präsentiert eine literatur-historische und kultur-historische Studie zu Ornament und Mode in der Literatur des fin de siècle Wien und Prag, und konzentriert sich dabei auf den jüdisch dominierten Shmaté Handel in Kafkas, Musils und Brochs Texten. Unter Shmatè-Handel versteht man somit den jüdischen Textilhandel, der im Handel von Textilresten seinen Ursprung hat.

Wir werden uns insbesondere auf kurze Auszüge von Kafkas Der Verschollene, Hermann Brochs Die Schlafwandler und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften konzentrieren. Diese behandeln Ornamentik nicht in Bezug auf Architektur, sondern in Bezug auf Kleidung.

Die Verbindung von Ornamentik und Mode geht auf die klassische Antike zurück und lebt in der Ornamentaskese des 20. Jahrhunderts auf. Vor dem Hintergrund kritischer Theorie von Vitruvius bis Semper, Riegl, Wörringer, Loos und Kracauer werden Verbindungen zwischen Ornament und Mode aufgeworfen. Dabei ist auch die biographische Relevanz in der deutsch-jüdische Literatur von Belang, denn Kafka, Musil und Broch hatten alle einen biographischen Bezug zum Textilhandel.

Eine Rückschau auf die textile Wirtschaftsgeschichte, insbesondere den jüdischen Shmaté Handel, kann die Literatur zu Anfang des 20. Jahrhunderts weitgehend beleuchten und den Bezug zwischen Textilie und Ornamentik neu herausarbeiten.

Dabei soll nicht nur auf eine Verbindung zu ornamentbehafteten „synagogalen Textilien“ (Hoffmann 2001), sondern auch zum textilen Medium als stummes Zeugnis einer verlorenen Kultur aufgeschlagen werden, welche jedoch in der Literatur, und somit auch in der jüdischen Gegenwartsliteratur, wie in den Werken von Katja Petrowskaja, Olga Grjasnowa und Sasha Marianna Salzmann, neuen Raum erlangen und an den Akt des Schreibens gekoppelt bleiben.

Die Symbole und Symbolik der Textilien, die auch auf den Tempelkult und Synagogenkult bis ins alte Israel zurückverweisen, aber gleichfalls Einflüsse vom Christentum und Islam aufnahmen, sind besonders aufschlußreich zur bewegten Geschichte des Judentums und seiner damaligen und gegenwärtigen Literatur.

Das lateinische Wort texere zeigt wie der Bezug zwischen Text und Textilie nicht nur die narrativen Konzeptionen in Auszügen von Kafka, Musil und Broch bestimmt, sondern die Verbindung zwischen Text und Textilie bis auf die gegenwärtige jüdische Literatur, insbesondere der post-Sovjet jüdischen Literatur in Deutschland, in den U.S.A und Israel erstreckt und Themen wie Migration, Identität, Transgender, Kosmopolitanismus und Solidarität neu beleuchtet.

Kurzbio

Miriam Wray ist eine Postdoktorandin in deutsch-jüdischer Gegenwartsliteratur an der Universität Leeds. Sie absolvierte einen Master an der Columbia University und einen PhD an der Harvard Universität. Ihre Arbeit wurde bereits von dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach, der Internationalen Jugendbibliothek in München, der Harvard University, dem DFG und dem PhD-net durch Fellowships und Preise unterstützt.

Sie ist Autorin der Monographie Ornament und Mode bei Kafka, Musil und Broch und weiteren einschlägigen Publikationen zur deutschen und österreich-jüdischen Literatur, Mode, Kulturstudien und Kleidung in der Kinderliteratur. Derzeitig arbeitet sie an einem Artikel zur Mode in dem Grimmschen Märchen Das Rotkäppchen für das Journal Marvels & Tales.

14.06.2023 Verdichtete Materie: Literarische Diamanten

Dr. Kira Jürjens (Humboldt-Universität zu Berlin)

Abstract

Härte, Dichte, Klarheit und Glanz – bereits seine materiellen Eigenschaften sowie seine kristalline Struktur weisen den Diamanten als Objekt von besonderem ästhetischem Interesse aus, womit er sich auch als Metapher der poetischen Selbstreflexion anbietet. Zugleich wird der Diamant ganz konkret auf der inhaltlichen Ebene literarischer Texte relevant, wo er sich in Satire, Komödie, Kriminalnovelle und Abenteuerroman seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als heimlicher Protagonist etabliert.

In einer gattungs- und medienübergreifenden Perspektive richtet der Vortrag exemplarische Schlaglichter auf den Diamanten in literarischen Texten vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert.

Besondere Aufmerksamkeit gilt der poetischen Kraft, die der Diamant im Spannungsfeld von Dichte und Zerstreuung entfaltet: Als Träger von Flüchen und Schutzzaubern, aber auch als ganz profaner Gegenstand des ökonomischen Begehrens erweist sich der Diamant als regelrechter Plot-Treibstoff und zentrierendes Ding-Symbol. Im Dialog mit (populär-)wissenschaftlichen Schriften des 19. Jahrhunderts gilt es zu fragen, inwiefern sich die Literatur für eine solche Funktionalisierung des Diamanten auch auf dessen chemische Verwandtschaft mit dem Energielieferanten Kohle sowie auf dessen geologische Entstehungsgeschichte unter erhöhtem Druck und starker Hitze berufen kann.

Dabei werden Fragen der Zeitlichkeit auf verschiedenen Ebenen relevant: So ist zu klären, wie sich die materielle Dauerhaftigkeit und ästhetische Zeitlosigkeit des Diamanten zum Doppelcharakter der Mode zwischen Flüchtigkeit und Beständigkeit verhält. Als Repräsentant einer geologischen Tiefenzeit, aber auch als Erbstück oder Geschenk verfügen literarische Diamanten über lange und verwickelte Objektbiographien, die sich mit den individuellen und familiären Lebensstationen der Figuren verflechten und im Wechsel von Erwerb, Verlust und Weitergabe narrativ produktiv werden.

Darüber hinaus sind die jeweils inszenierten Präsentationsmodi von Interesse: Wie wird der Diamant für Figuren wie für Leser*innen sicht- bzw. vorstellbar? In welche materiellen und räumlichen Arrangements ist er eingebunden und welche Beziehungen werden dabei zwischen Schmuck- und Kleidermode hergestellt? Damit stellen sich auch Fragen nach der geschlechtlichen Besetzung und geschlechterperformativen Dimension des Diamanten sowie nach dem literarischen Umgang mit den Gewaltgeschichten seiner kolonialen Herkunft.

Kurzbio

Kira Jürjens ist Literaturwissenschaftlerin und seit 2017 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Wissensgeschichte, Geschlechterverhältnisse und -codierungen, Literarische Interieurs sowie Text und Textil.

Publikationen

Der Stoff der Stoffe. Textile Innenräume in der Literatur des 19. Jahrhunderts, Wien/Köln/Weimar 2021.

„Feinheiten. Stifters Ästhetik der Textur“, in: Stifters Mikrologien, hg. v. Davide Giuriato und Sabine Schneider. Stuttgart: Metzler 2019, S. 105–126.

21.06.2023 Feste Bindung an lose Stoffe: Kleider-Tagebücher als Artefakte, Textsorte und Inspirationsquelle

Dr. Iris Schäfer (Goethe-Universität Frankfurt)

Abstract

Ausgehend von so genannten Kleider-Tagebüchern möchte ich in diesem Vortrag Schlaglichter auf eine überaus intime und bedeutsame Mensch-Objekt-Beziehung werfen und eine bisher kaum erforschte Textsorte fokussieren. Kleider-Tagebücher, in denen Fragmente von Textilien aufbewahrt und mitunter mit Zeichnungen, Notizen oder Schnittmustern ergänzt wurden, zeugen von der Relevanz, die individuell angefertigte Kleidung für das Leben und rückblickend betrachtet, die Biografie eines Menschen aufweisen kann.

Vom Taufkleid über die Konfirmations- und Hochzeits-kleidung bis zum Totenhemd: Kleidung markiert Status- und Rollenübergänge, schafft Abgrenzung oder Zugehörigkeit(en). Diese Bedeutung von Kleidungsstücken wurde u. a. aus kulturhistorischer Perspektive bereits in den Blick genommen. Die vermehrt zwischen dem frühen und der Mitte des 19. Jahrhunderts angefertigten textilen Biografien, erscheinen gerade daher so interessant, weil hier nicht die oben genannten bedeutsamen Kleidungsstücke im Zentrum stehen, sondern die auf den ersten Blick weniger relevante Alltagskleidung.

Angefertigt wurden Kleider-Biografien primär von Müttern, weshalb hier hauptsächlich Kinderkleidung thematisiert wird. Abgesehen von einem dokumentarischen Charakter gibt diese Textsorte somit Aufschluss über (idealisierte) Mutter-Kind-Symbiosen, die über das Einkleiden bzw. die Anfertigung einer zweiten Haut (vgl. Funke 2006) zur Darstellung gelangen.

Wie im Fall der Kinderliteratur, ist auch hier ein Diskurs über Kinder aus erwachsener Perspektive dominant, der jedoch um einiges intimer ausfällt, was ich am Beispiel ausgewählter kinderliterarischer Texte veranschaulichen werde. Die eingekleideten Kinder, um die es hier geht, verschmelzen mit textilen Artefakten und Schnittmustern, die zu einer multi-sensorischen Lektüre einladen.

Bei der literaturwissenschaftlichen Analyse dieser Textsorte ist insbesondere die Adressierung, die Lesendenlenkung, die Inszenierung von Autorschaft sowie der Status der hier abgebildeten Artefakte und der ihnen eingeschriebenen Kindheitsbilder zu erwägen. Im Ausblick werde ich zudem auf auffällige Analogien zwischen diesen textilen (auto-)biografischen Texten und anderen (kinder-)literarischen Genres und Medien eingehen, um den Stellenwert erzählter Kleidung für die (Kinder-)Literatur herauszustellen.

Kurzbio

Iris Schäfer, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Jugend-buchforschung der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und hat in Frankfurt und London Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik (mit den Schwerpunkten: Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft und Mediävistik) studiert.

Forschungsinteressen: psychoanalytische Zugänge zu Kinder- und Jugendmedien, Mädchenliteratur um 1900, Krankheit, Traum und Mode in Kinder- und Jugend-medien.

Publikationen

Iris Schäfer Publikationen

28.06.2023 Cross dressing

Prof. Dr. Barbara Vinken (Ludwig-Maximilians-Universität München)

Abstract

„Gender fluidity“ und „non binary“, sind Stichworte der Stunde geworden. Ich möchte das Queering oder Cross dressing dagegen setzen. Die Mode verwischt nicht die Unterschiede; sie führt Männlichkeits- und Weiblichkeitsclichés disharmonisch, hart, verunsichernd gegeneinander. Die Genderkategorien werden nicht zementiert, sondern ironisch spielerisch, lustvoll durchkreuzt; nicht destruiert, sondern dekonstruiert. Mann als Mann als Frau, Frau als Mann als Frau – und natürlich gibt es noch viele andere Varianten. Kästchen und Kasten, in die man eingeordnet wird, die Korsette, in die man geschnürt wird, werden vorgeführt und zum größten Vergnügen aller aufgesprengt.

Kurzbio

Barbara Vinken, Dr. phil. (Konstanz), Ph.D. (Yale), Dr. habil. (Jena) ist seit 2004 Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Phlilologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur- und Modetheorie.

Publikation

Ver-kleiden. Was wir tun, wenn wir uns anziehen, hrsg. von Astrid Kury, Thomas Macho u. Peter Strasser, Reihe Unruhe Bewahren, Wien; Salzburg: Residenz Verlag 2002. S. 93.

Abbildung

Jan Dreer für IFK

05.07.2023 Vestimentäre Enthüllungen auf der Suche nach dem Floh

Dr. Julia Saviello (Goethe-Universität Frankfurt)

Abstract

Ausstellungen wie Fashioning the Body (2015) und Structuring Fashion (2019) haben in den letzten Jahren in den Blick genommen, was dem Blick eigentlich verborgen bleiben soll: Die Unterwäsche, die den Körper schützt, wärmt und formt. Dass dieser Teil der Kleidung meist unsichtbar bleibt, gilt für die getragene Mode wie für ihre künstlerische Darstellung. Auch im Bild zeigt sich Unterwäsche, wenn überhaupt, nur in der Silhouette einer bereits vollständig gekleideten Figur, wie z. B. in einer schmalen Taille, einer flachen oder betonten Brustpartie.

Allerdings kann Unterwäsche in bildnarrativen Zusammenhängen auch bewusst offengelegt werden. Die Suche nach dem Floh, bei der Kleider durchwühlt oder sogar abgelegt werden, ist ein solcher Zusammenhang. Der Vortrag widmet sich einer Auswahl von Beispielen dieses beliebten Bildsujets und geht der Frage nach, wie und in welchen Formen Unterwäsche in ihnen zum Vorschein kommt.

Kurzbio

Julia Saviello ist Kunsthistorikerin und seit 2016 Assistentin am Kunstgeschichtlichen Institut der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: italienische und niederländische Kunst und Theorie der Frühen Neuzeit, Kultur- und Kunstgeschichte des Haares und der Haut, historische Konzeptionen des Körpers und körperlicher Schönheit, Waffen und andere Objekte als Bildmedien.

Publikationen

Verlockungen: Haare in der Kunst der Frühen Neuzeit, Emsdetten/Berlin: Edition Imorde 2017.

„Giovanni Paolo Lomazzo: Anmutige Falten – die textile Hülle des Körpers (1584)“, in: Romana Sammern u. Julia Saviello (Hg.), Schönheit ― Der Körper als Kunstprodukt: Kommentierte Quellentexte von Cicero bis Goya, Berlin: Reimer 2019, S. 241-249, open access: https://doi.org/10.11588/arthistoricum.425

12.07.2023 Modeblumen. Saison, Accessoire und Lebensstil um 1800

Dr. Christiane Holm (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)

Abstract

Wenn die Kleidungs- und Einrichtungsmode als Kultur der Dinge beschrieben wird, werden Pflanzen meist übersehen. Im Zuge der Botanophilie um 1800 werden Blühpflanzen in Zimmergestaltung und Garderobe eingebunden, besprochen und als Lebewesen reflektiert. Es geht dabei nicht allein um das Dekor, sondern um einen spezifischen Lebensstil – ein Einfallstor für Narrative.

Informiert und erzählfreudig werden in Ratgebern und Zeitschriften, insbesondere im „Journal des Luxus und der Moden“ die neuesten „Modeblumen“ in „Kopfputz“ und „Stubengarten“ besprochen.

Eine gewisse Grundspannung ergibt sich daraus, dass zwei Strukturmerkmale der Mode mit den Pflanzen kollidieren: erstens die unvorhersehbare Eigendynamik der Mode, welche zweitens eine schnelle Verfügbarkeit der Artikel voraussetzt. Das widerspricht der langfristigen Haltung von Blühpflanzen, die ihre eigene, mitunter schwer kalkulierbare Saison haben und nicht immer leicht zu handhaben sind. Folglich kann der Markt oft nicht schnell genug reagieren und Eigeninitiative ist gefragt, entsprechend klagen die Botanischen Gärten im Winter über Pflanzenraub durch Besucherinnen.

Mit Blick auf den Einsatz von Pflückblumen in der Frisurenmode lassen sich zwei Positionen unterscheiden: die erste besteht auf der Anbindung der Modesaison an die Jahreszeiten, plädiert etwa für die Einbindung allseits verfügbarer Feldblumen und somit den Gleichtakt von Mode- und Jahreszeit, die andere betont das Azyklische und setzt z.B. Sommerblumen in der Wintergarderobe ein und steht positiv zu Glashaus- oder Kunstblumen.

Kurzbio

Christiane Holm ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und seit 2012 Mitarbeiterin am Germanistischen Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, zudem kuratiert sie Ausstellungen im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs (z.B. Tagebuch, Papierarbeit, Dichterhaus). Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Dingkulturen, Gartenkunst und Interieur, Geschlechterkonzeptionen in der Literatur des 18. und langen 19. Jahrhunderts.

Publikationen

Intime Erinnerungsgeflechte. Memorialschmuck aus Haaren um 1800. In: Kritische Berichte 32 (2004). H. 1, S. 29–41.

Handarbeit. (Handliche Bibliothek der Romantik, hrsg. zusammen mit Roland Borgards u.a., Bd. 5) Berlin: Secession 2020.

Abbildung

Johann Georg Penzel, Frontispiz in: Johann Joseph Natter, Über die Freundschaft, Leipzig 1796.

Rückblick

Workshop: Erzählte Mode – erzählte Objekte

19./20. Januar 2023

Workshop Programm (wird in neuem Tab geöffnet)