Laufendes Promotionsprojekt

Die Kultur der Begegnung. Eine soziologisch-visuelle Studie zu historischen und gegenwärtigen Verschränkungen von Kultur- und Integrationsarbeit

Joanna Jurkiewicz, Technische Universität Darmstadt

Promotionsvorhaben

„10. Freizeit

Im Hinblick auf die zunehmend längere Aufenthaltsdauer und verstärkte Familienzusammenführung ist die Freizeit für die Integration in das gesellschaftliche Leben von besonderer Bedeutung. Deshalb sollte der Freizeitgestaltung dieser zahlenmäßig nicht unbedeutenden Bevölkerungsgruppe mehr Beachtung entgegengebracht werden.“

(Stadt Sindelfingen 1979)

Der sogenannte „Erste Ausländerbericht“ der Stadt Sindelfingen von 1979 liefert zum ersten Mal einen Überblick über die bisherigen Maßnahmen im Bereich der kommunalen Migrationsarbeit in der Stadt und listet die dort relevanten Akteur*innen in diesem Feld auf. Das Dokument stellt zugleich ein Konzept für die strategische Weiterentwicklung der städtischen Migrationsarbeit dar. Es entstand als Reaktion auf eine bestimmte historische Konstellation – in erster Linie, als die lokalen politischen Entscheidungsträger*innen erkannten, dass den Menschen, die ab 1955 im Rahmen der Arbeitskräfteanwerbung vor allem aus den Mittelmeerländern kamen, die Rückkehr in ihre Herkunftsländer nicht mehr zugemutet werden konnte. Und auch ihre Präsenz in der Stadt, die fast ein Fünftel der Stadtbevölkerung ausmachte, konnte nicht länger ignoriert werden (vgl. Berlinghoff 2016, 937f.). So begannen die lokalen politischen Entscheidungsträger*innen, Maßnahmen für die gesellschaftliche Integration der Migrant*innen (die teilweise zu dem Zeitpunkt bereits seit 25 Jahren in Sindelfingen lebten) zu erarbeiten. Dabei spielte Kulturarbeit darin von Anfang an eine wichtige Rolle – der erste Ausländerbeauftragte der Stadt initiierte sehr früh eigene Kulturveranstaltungen, die damals als „Mittel der Völkerverständigung” gerahmt wurden.

Mit der Entstehung der kommunalen Migrationsarbeit in Deutschland in den 1960er und 1970er Jahren (angesiedelt in der Regel im Sozialamt) geht auch ein Beginn der neuen „Kulturarbeit der Vielfalt“ – als Kulturpolitik für Migrant*innen – einher. Zu diesem Zeitpunkt entstanden in Westdeutschland zahlreiche Stadtfeste und -festivals, die durch das gemeinsame Feiern die Begegnung zwischen den „Deutschen“ und „Ausländern“ ermöglichen sollten. Sie haben eine machtvolle Erzählung von Zugehörigkeiten etabliert: von denen, die „hier“ verortet sind und denen, die „dort“ symbolisch gehören.

Das Internationale Straßenfest in Sindelfingen (ISF) gehörte zu den größten Veranstaltungen dieser Art in der Stadt und teilweise in der Region. Mehr als 10 Jahre wurde das ISF vom Amt für soziale Dienste organisiert und als Teil der kommunalen Integrationsarbeit betrachtet. Somit ist das Fest ein Beispiel für eine Kulturpolitik, die insbesondere an die migrantische Bevölkerung gerichtet ist. Das Internationale Straßenfest, seine Geschichte und Gegenwart stellen in diesem Promotionsprojekt den Ausgangspunkt und Referenzrahmen für das dar, was ich als institutionalisierte „Kultur der Begegnung“ bezeichne. Die Arbeit der früheren Ausländer-, heute der Integrationsbeauftragten hat zu der Institutionalisierung der Vielfalt als eine folkloristische Performance der „fremden“ Kulturen und Nationen beigetragen. Mit Folkloreaufführungen und Essensangeboten aus den Herkunftsländern wurde ein Modus der hegemonialen Zuschreibung der migrantischen Akteur*innen als Andere und von woanders her fest- und fortgeschrieben.

Um die heutigen rassifizierten Strukturen und Narrative in Kunst und Kultur zu verstehen und zu hinterfragen, ist es notwendig, tiefer in die Entstehung von Kulturinstitutionen und institutionalisierten Narrativen über Migration zu forschen. Die vorliegende Forschung widmet sich der Kulturarbeit in der frühen kommunalen Migrationspolitik in Westdeutschland und arbeitet deren Rolle in der Herstellung einer frühen „Kulturpolitik der Vielfalt“ kritisch auf. Am Beispiel der sogenannten „multikulturellen” Festivals, die in den 1970er und 1980er Jahren in vielen Städten in Westdeutschland im Rahmen der kommunalen Integrationsarbeit organisiert wurden.

Das ISF dient im vorliegenden Projekt als Beispiel für diese Kulturpolitik und wird einerseits als Teil der historischen Migrationspolitik in Deutschland analysiert. Mit einem Mapping wird die Verbreitung und Reichweite ähnlicher Initiativen deutlich gemacht. Andererseits wird gefragt, inwieweit das Format eines „internationalen Straßenfestes“ in der Tradition der Darstellungen der Welt auf Weltausstellungen zu finden ist (vgl. Welz 2007, S. 227).

Gleichzeitig setzt sich das Projekt mit früheren und gegenwärtigen Positionierungen der am Fest beteiligten Akteur*innen auseinander, um eine alternative Lesart und Erzählung der historischen Kulturarbeit der migrantischen Akteur*innen zu leisten. Das Fest als Ort der Selbstrepräsentation der migrantischen Akteur*innen ist dabei ein Ort, an dem die Herkunftsländer und ihre Kultur als imaginierte Orte hergestellt werden.

Berlinghoff, Marcel (2016): Die Bundesrepublik und die Europäisierung der Migrationspolitik seit den späten 1960er Jahren. In: Jochen Oltmer (Hg.): Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert. Berlin, Boston: de Gruyter Oldenbourg (De Gruyter reference), 931–966.

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Stadt Sindelfingen (1979): Ausländerarbeit in Sindelfingen. Stadtarchiv Sindelfingen. Bericht.

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Welz, Gisela (2007): Inszenierungen der Multikulturalität: Paraden und Festivals als Forschungsgegenstände. In: Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.): Ethnizität und Migration. Einführung in Wissenschaft und Arbeitsfelder. Berlin: Reimer (Reimer Kulturwissenschaften), 221–233.